Nobel: Der Mann hinter den Preisen

Nobel: Der Mann hinter den Preisen
Nobel: Der Mann hinter den Preisen
 
Alfred Nobel (1833-96) hielt nichts davon, Einzelheiten aus dem Leben anderer Leute zu erfahren. Er meinte: »Wer hat Zeit, Biografien zu lesen, und wer kann so naiv und liebenswürdig sein, sich dafür zu interessieren?« Und so war er denn auch im eigenen Fall allenfalls zur Mitarbeit in sarkastischem Telegrammstil bereit: »Erbärmliches Halbleben, hätte von menschenfreundlichem Arzt erstickt werden sollen, als er schreiend in dieses Leben trat. Größte Verdienste: die Fingernägel rein zu halten und nie jemandem zur Last zu liegen. Größte Fehler: keine Familie zu haben, keine frohe Laune, keinen guten Magen. Größter und einziger Anspruch: nicht lebendig begraben zu werden. Größte Sünde: nicht dem Mammon zu huldigen. Bedeutende Ereignisse in seinem Leben: keine.« Der Mann, der mit 54 Jahren diese Zeilen schrieb, gehörte zu den prominentesten und reichsten Personen Europas. Er starb sieben Jahre später am 10. Dezember 1896. Sein Stiftungstestament stammt vom 27. Dezember 1895. Die berühmten, hochkarätigen Preise, die auf dieses Testament zurückgehen, werden seit 1901, also nunmehr ein ganzes Jahrhundert lang, vergeben. Sie sind die begehrtesten und angesehensten Auszeichnungen in der Physik, Chemie, Medizin, Literatur und schließlich auch in der Arbeit für den Frieden. Die Personalunion von Sprengstoffexperte und Friedenspreisstifter hat Nobel den Ruf eingetragen, dass er den Preis aus Gewissenskonflikten gestiftet habe. Tatsächlich hat er viele Jahrzehnte, bevor das Gleichgewicht des Schreckens aktuell wurde, leidenschaftliches Interesse für Friedensfragen entwickelt und später die Möglichkeit eines Friedens durch Superwaffen in Betracht gezogen. Zwar bestritt Nobel die Verantwortung des Wissenschaftlers für die Anwendung seiner Erfindung, aber die Stiftung des Preises in seinem Testament kann in gewissem Umfang durchaus auch als Ausdruck schlechten Gewissens verstanden werden. Denn sein Leben lang war der Schwede tief getroffen von den Vorwürfen, dass seine Erfindungen Tod und Elend über die Menschen gebracht hätten.
 
 Erfolg kostet
 
Alfred Nobel, dessen ungeheurer Reichtum aus seinen Entdeckungen von Sprengstoffen herrührte, war ein Selfmademan, wie man ihn sich typischer kaum denken kann - Chemiker, Geschäftsreisender, vielfacher Firmengründer, Großunternehmer, Multimillionär und besessen von der Arbeit. »Ohne Arbeit wäre es unerträglich«, schrieb er. »Aber die Arbeit verschönert alles, und die Gedanken schaffen ein neues Leben, in dem man Luxus und Komfort entbehren kann, ohne sie zu vermissen, und in dem man nicht dazu kommt, den bleiernen Druck der Langeweile zu fühlen.« Ihn reizte nie Forschung im Elfenbeinturm, sondern immer industrielle Entwicklungsarbeit. Wie ein Besessener experimentierte er bis ins hohe Alter im Labor - oft unter Lebensgefahr und ohne zu essen und zu schlafen. Mit Arbeitswut und Leseeifer kompensierte der gebildete Autodidakt seine Menschenscheu, den Hang zu Depressionen und seine Einsamkeit. 1893 verlieh ihm die Universität Uppsala einen Ehrendoktor für Philosophie. Er hat den Titel nie benutzt.
 
Nobels Privatleben war unglücklich und er selbst ein zerrissener Mensch: Schon der von Literatur und Poesie begeisterte 18-Jährige schrieb als Fingerübung ein langes, lethargisches Gedicht im Stile Shelleys, in dem er sein bisheriges Leben darstellte und in einer unglücklichen Liebe enden ließ. 25 Jahre später, im Mai 1876, hatte er mit der österreichischen Gräfin Bertha Kinski, die kurz darauf einen Baron von Suttner heiratete, eine wenige Tage dauernde, unerfüllte Romanze. Noch im gleichen Jahr begann Nobel mit der blutjungen Blumenverkäuferin Sofie Hess, ebenfalls einer Österreicherin, eine lange, glücklose Affäre.
 
Das Bild der oft als rätselhaft beschriebenen, zwiespältigen Persönlichkeit Alfred Nobels wird aus einer Vielzahl von Briefen deutlich. Die erhaltene Korrespondenz des schwedischen Magnaten ist ungewöhnlich umfangreich. Die Briefe verstärken den sattsam bekannten Eindruck von Nobels Charakter als den eines menschenfeindlichen und depressiven Zeitgenossen. Die Korrespondenz zeigt auch das ganze Elend seiner traurigen Amoure mit der koketten, 23 Jahre jüngeren Sofie Hess, die ihren vermögenden Liebhaber fast zwei Jahrzehnte lang nach Strich und Faden ausnahm und selbst aus seinem Tod noch Kapital schlug: Als Nobel 1896 starb, drohte sie mit einem Skandal, falls die Nachlassverwalter Nobels Briefe nicht bei ihr auslösten, und konnte mit Mühe und Not mit einer horrenden Summe Geld zum Schweigen gebracht werden.
 
 Aus bitterer Armut zum Großbürgerssohn
 
So menschlich anrührend die aufreibende Liebesaffäre des melancholischen, einsamen Millionärs gewesen sein mag, sozialhistorisch interessanter ist ohne jeden Zweifel die technisch-wissenschaftliche und die unternehmerisch-industrielle Seite im Leben Alfred Nobels: Der Schwede war vor allem ein genialer Tüftler und ein cleverer Geschäftsmann, der seine Erfindungen mit ungeheurer Energie und gegen alle Widerstände rund um den Globus vermarktete und aus dem Nichts ein Wirtschaftsimperium zu geradezu atemberaubendem Erfolg führte. Prägend für die Aktivitäten des späteren Industriemagnaten war dabei seine eigene, frühe Familiengeschichte, die von bitterer Armut zu großbürgerlichem Wohlstand und neuerlichen wirtschaftlichen Existenzkrisen des Vaters führte.
 
Zu den Vorfahren Alfred Nobels zählte Olof Rudbeck, Schwedens bedeutendster Gelehrter im 17. Jahrhundert, der als Professor der Medizin und Rektor an der Universität Uppsala lehrte. Rudbeck galt als Universalgenie, weil er nicht nur das menschliche Lymphsystem entdeckte, sondern auch Häuser und Brücken, Wasserleitungen, Schleusen und botanische Gärten zu bauen verstand und sich ebenso auf dem Gebiet der Ballistik und Pyrotechnik auskannte. Der Familienchronik nach danken Alfred Nobel, sein Vater und seine Brüder ihre technischen Talente und ihre Lust am Tüfteln eben diesem Ahnherrn.
 
Rudbecks Tochter Wendela heiratete den Juristen und späteren Richter Petrus Nobelius, der seinen südschwedischen Geburtsort Nöbbel auf Schonen zum Familiennamen latinisierte, als er sich zum Studium in Uppsala einschrieb. Dessen Enkel Immanuel, ein Regimentsarzt, kürzte den Namen zum vornehm klingenden »Nobel« - mit der Betonung auf der letzten Silbe. Sein Ururenkel Immanuel wurde Alfreds Vater. Er hatte sich aus kleinsten Verhältnissen zum Architekten und Baumeister hochgearbeitet. In Alfreds Geburtsjahr 1833 musste Immanuel Nobel Konkurs anmelden, und es dauerte zehn Jahre, bis er alle Gläubiger befriedigt hatte.
 
Alfred Bernhard Nobel, das dritte von acht Kindern, von denen allerdings nur die Hälfte groß wurde, erlebte von wirtschaftlicher Not bedrängte, frühe Jahre, in denen lange Zeit der Vater fehlte. Der zog 1838 nach St. Petersburg, um dort eine mechanische Werkstatt zur Herstellung von Tretminen für die russischen Streitkräfte zu gründen, für die er die eigene schwedische Regierung nicht hatte interessieren können. Die Mutter Andriette blieb mit dem fünfjährigen Alfred und seinen beiden älteren Brüdern Robert und Ludwig in Stockholm zurück und ernährte sich und die Kinder bescheidenst mit einem kleinen Geschäft für Milch und Gemüse. Es heißt, Alfred, Robert und Ludwig hätten auf der Straße Zündhölzer verkauft, um der Mutter beim Unterhalt zu helfen, und die Erzählung scheint keine sozialromantische Ausschmückung der Biografen Nobels.
 
Als Alfred neun Jahre alt war, holte der Vater die Familie nach St. Petersburg. Seine neue Firma, in der nun auch Wagen- und Kanonenräder sowie Warmwasserzentralheizungen hergestellt wurden, prosperierte und erlaubte einen zunehmend großbürgerlichen Lebenszuschnitt. Für die Söhne wurden namhafte Hauslehrer engagiert, die sie in Mathematik, Physik und Chemie, Geschichte, Philosophie und Literatur sowie Russisch, Französisch, Englisch und Deutsch unterrichteten.
 
 In den Fußstapfen und in der Firma des Vaters
 
Mit 16 Jahren war Alfred Nobel ein kluger, gebildeter, junger Mann, der fünf Sprachen beherrschte. Er liebte die Literatur, aber auch die Chemie und dort besonders das Experimentieren, das er bei den beiden russischen Professoren Julij Trapp und Nikolai Sinin gelernt hatte und bald als Assistent seines Vaters praktizierte.
 
Den 17-Jährigen schickte der Vater in den Jahren 1850-52 auf eine Studienreise nach Deutschland, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Er sollte dort seine Chemiekenntnisse komplettieren und sich zum Nutzen der väterlichen Firma auf dem Gebiet der Sprengstofftechnik umsehen. Die Familie hoffte wohl auch, dass er sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen würde, Schriftsteller zu werden.
 
Alfred Nobel verbrachte ein Jahr im Pariser Laboratorium des Chemikers Jules Pelouze, um sich mit explosiven Substanzen zu befassen. Vermutlich hörte er dort erstmals vom Nitroglycerin. Der hochexplosive, schwer hantierbare Sprengstoff war 1847 von dem Italiener Ascanio Sobrero entdeckt worden. Bei Pelouze schloss Alfred Nobel seine Ausbildung als Chemiker ab. Nach seiner Rückkehr nach Russland wurde er wie seine Brüder in der väterlichen Firma angestellt.
 
Als 1854 der Krimkrieg ausbrach, gehörte Vater Immanuel Nobels Fabrik zu den wichtigsten russischen Unternehmen, die mit Staatsaufträgen die Streitkräfte ausrüsteten. In dem Betrieb, der zu besten Zeiten 1000 Arbeiter beschäftigte, wurden Land- und Seeminen mit Ladungen aus Schwarzpulver und Schießwolle, Geschütze und Schnellfeuergewehre, aber auch große Schrauben für Dampfschiffe hergestellt. Mit dem Kriegsende 1856 kam die Katastrophe für Immanuel Nobel, der davon lebte, Kriegsmaterial zu produzieren. Die öffentlichen Aufträge entfielen, und die Fabrik machte Konkurs. Die Eltern kehrten heim nach Schweden, und der Vater mietete in dem Landgut »Heleneborg« ein paar Zimmer, wo er sich ein neues, kleines Laboratorium einrichtete und mit dem jüngsten Sohn Emil weiter an Sprengstoffen arbeitete. Die drei älteren Söhne blieben in St. Petersburg, um die Firma zu liquidieren und zu retten, was zu retten war. Sie ventilierten mögliche Projekte für einen Neubeginn und ließen sich dabei von ihren früheren Lehrern beraten. Der Professor und General Nikolai Sinin erinnerte sie an die Möglichkeiten des Nitroglycerins.
 
 Sprengöl - das erste, wichtige Patent
 
Alfred Nobel sah in der hochexplosiven Chemiekalie eine wirtschaftliche Chance. In den nächsten Jahren führte er immer wieder riskante Experimente mit der schwierigen Substanz durch, bis es ihm 1860 erstmals gelang, Nitroglycerin in ausreichender Menge herzustellen. Er mischte den heiklen Stoff mit Schwarzpulver und brachte die Mixtur tatsächlich auf der zugefrorenen Newa mit einer Zündschnur zur Explosion. Unter dem Namen »Sprengöl« reichte er die neue Methode, »Pulver sowohl zum Sprengen wie zum Schießen zu nutzen«, im heimischen Stockholm beim Patentamt ein. Das Patent wurde ihm am 14. Oktober 1863, eine Woche vor seinem 30. Geburtstag, erteilt. Der junge Erfinder blieb in Schweden und setzte in einem primitiven Schuppen in Heleneborg seine Experimente fort. Er vereinfachte die Herstellung von Nitroglycerin und dachte sich ein geeignetes Zündhütchen für die Sprengladung aus, das zunächst aus einem Holzpfropfen mit Schwarzpulver, sehr bald verbessert aus einer bis heute verwendeten Metallhülse bestand. Schon 1864 gab es dafür das nächste Patent.
 
Nobels Initialzünder galt als Revolution in Theorie und Praxis der Sprengstofftechnik, wichtiger als das drei Jahre später gefundene Dynamit. Erst durch diesen Zünder konnte das Nitroglycerin wirksam als Sprengstoff genutzt werden. Auch Nobel selbst wusste, dass ihm mit seinem Zündhütchen Bahnbrechendes gelungen war: 1864 habe »das wirkliche Nitroglycerinalter« begonnen, sagte er später.
 
 Ein unermüdlicher Erfinder
 
Der Erfolg war teuer erkauft: Am 3. September 1864 flog der Schuppen in Heleneborg, in dem die Experimente durchgeführt wurden, in die Luft. 300 Pfund Nitroglycerin sollen in seinem Inneren explodiert sein. Nobel selbst wurde nur leicht verletzt. Aber fünf andere Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben - ein Ingenieur, ein Arbeiter, ein Laufbursche, ein Dienstmädchen und Alfreds jüngerer Bruder Emil. Vater Immanuel verkraftete das Unglück nicht, sondern erlitt kurz danach einen Schlaganfall, der ihn für den Rest seines Lebens zum Wrack machte.
 
Trotz der Todesfälle und der damit verbundenen Anfeindungen und polizeilichen Auflagen arbeitete Alfred Nobel unbeirrt weiter. Zunächst auf einem Schleppkahn, der auf dem Mälarsee verankert war, später in einer neuen Fabrik in Vinterviken südlich der Stockholmer Stadtgrenze und bald darauf auch in einem Betrieb in Krümmel bei Hamburg produzierte er Sprengöl. Zugleich versuchte er, die Verwendung der diffizilen Substanz in immer neuen Experimenten sicherer zu machen, damit sich ihre Risiken beim Transport und bei der Aufbewahrung minderten.
 
Nobel erkannte, dass Nitroglycerin von porösem Material aufgesogen und mit diesem gemischt werden musste, wenn man es mit weniger Problemen handhaben wollte. Er probierte Holzkohle, Sägespäne, Ziegelstaub und Zement als Zusatzstoffe. Erst in der Kieselgur fand er schließlich die ideale Beimischung.
 
Die pulvrige, poröse Masse aus den Panzern abgestorbener Algen, die in unmittelbarer Nähe seiner deutschen Niederlassung abgebaut werden konnte, saugte Nitroglycerin zu einer zähen Substanz auf. Aus dieser Masse ließen sich Stäbe formen, die betriebssicher transportiert und in Bohrlöcher gesteckt werden konnten. Sie explodierten nicht spontan, sondern erst, wenn eines von Nobels Zündhütchen sie in Brand setzte.
 
Nobels hantierbare Variante des hochempfindlichen Nitroglycerins wurde 1867 als »Dynamit« patentiert, zuerst in England, Schweden und den USA. Das Dynamit machte Nobel schlagartig berühmt und reich. Es wurde das gängige Sprengmittel. Der Erfinder selbst gab dem Explosivstoff den Namen - nach dem griechischen Wort für »Kraft«. Die deutschen Mitarbeiter hatten das Dynamit »Sprengkitt« nennen wollen. Aber Nobel meinte, das höre sich an, als sollten Fensterscheiben gesprengt werden, und das sei wohl kaum beabsichtigt. Gedacht war an ganz andere Größenordnungen: Es war die Zeit großer Anlageprojekte, und Nobels Erfindung beförderte durch die Möglichkeit, Erdmassen zu sprengen und zu versetzen, allerorts den Bau von Eisenbahnen, Häfen und Brücken, Kanälen und Straßen, Bergwerken und Tunnels. Was mit friedlichen Unternehmungen begann, interessierte bald auch die Militärs, und sie verwendeten Dynamit in Bomben und Granaten.
 
Eine verbesserte Variante des Dynamits wurde 1875 als »Sprenggelatine« patentiert. Nobel hat selbst erzählt, welcher Zufall ihn zur Entdeckung dieses stoß- und friktionssicheren Sprengstoffs führte. Er hatte sich in den Finger geschnitten und strich sich in seinem Labor als Pflasterersatz etwas Kollodium auf die Wunde, also in Alkohol und Äther gemischten, leimartigen, nitrierten Zellstoff. Dabei kam ihm die Idee, Kollodium und Nitroglycerin in einer Schale zu mischen. Das Nitroglycerin löste sich sofort auf, und es entstand ein Gelee, das sich je nach Mengenverhältnis beliebig fest oder flüssig halten ließ.
 
Nobel experimentierte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen präsentierte er seinen Mitarbeitern die Sprenggelatine als neues, überlegenes Produkt mit stärkerer Sprengkraft als reines Nitroglycerin und dabei chemisch stabil und unempfindlich gegen Stöße. Ein knappes Jahrzehnt später, im Jahr 1884, erfand Alfred Nobel das erste rauchlose Pulver, das er »Ballistit« nannte. Dieses Gemisch aus Nitrozellulose und Nitroglycerin, das bald »Nobel-Pulver« hieß, machte Schluss mit den Rauchschwaden beim Zünden von Handfeuerwaffen und hinterließ nur noch Wasserdampf. Es ersetzte bald das seit dem 15. Jahrhundert in Europa gebräuchliche Schwarzpulver in Gewehren und Pistolen. 1887 erhielt Nobel in Frankreich das erste Patent auf sein neues Pulver.
 
Nobel ließ sich nicht nur immer wieder Neues zu Sprengstoffen und zur Waffenchemie einfallen. Er kümmerte sich auch intensiv um die Entwicklung neuer Materialien - beispielsweise synthetischen Gummi, Kunstseide und Kunstleder. Zugleich arbeitete er an Lokomotivbremsen, Alarmanlagen, Fernmeldetechnik, Flugzeugkonstruktionen und Kühlschränken für den Haushalt. Die Ideen und die Lust am Experimentieren gingen ihm bis ans Lebensende nicht aus, zuletzt hatte er 355 Patente.
 
 Auch als Unternehmer ein Talent
 
Alfred Nobels zahlreiche Patente entstanden zunächst in seinen Laboratorien in Hamburg und Paris. Später richtete er sich auch Labors in Ardeer in Schottland und in Bofors in Südschweden ein, wo er sich eine Kanonenfabrik gekauft hatte. Selbst in seiner sommerlichen Villa in San Remo gab es ein großes Laboratorium und eine Bibliothek.
 
Bei aller Forschung und Entwicklung hatte Nobel aber stets die industrielle Verwertung im Blick und ein untrügliches Gespür für Marktchancen. Diese Doppelbegabung von talentiertem Erfinder und erfolgreichem Unternehmer scheint das erstaunlichste Phänomen an Alfred Nobel. Er war einer der wenigen Forschungsingenieure, der in eigener Person äußerst geschickt kommerziell zu nutzen verstand, was unter seinen Händen im Labor entstanden war.
 
Schon als 30-Jähriger agierte Alfred Nobel mit resoluter Entschlossenheit und unbeirrbarem Selbstvertrauen, als er sich daran machte, sein soeben bewilligtes Patent für Sprengöl industriell zu nutzen. Weder die tödliche Explosion in der Fabrik außerhalb Stockholms noch die aufgebrachte Öffentlichkeit oder die Auflagen der Polizei hinderten ihn an der Verwirklichung seiner Pläne. Er gründete im Oktober 1864 seine erste Aktiengesellschaft »Nitroglycerin Aktiebolaget« und produzierte unter anfangs äußerst schwierigen Bedingungen Sprengöl. Als die Nachfrage in Schweden wuchs, ließ sich Nobel sein Sprengöl auch in England, Norwegen und Finnland patentieren. Bereits im November 1865 genehmigten ihm die deutschen Behörden den Bau einer Nitroglycerinfabrik. In Krümmel an der Elbe südöstlich von Hamburg entstand seine erste ausländische Firma.
 
 Auf dem Weg zu einem Weltimperium
 
Ein halbes Jahr später reiste er in die Vereinigten Staaten, um auch dort eine kontinuierliche Sprengstoffproduktion in Gang zu bringen. Das war ein schwieriges Unterfangen, da sich kurz zuvor mehrere tödliche Unfälle mit Nitroglycerin ereignet hatten, einer davon direkt vor einem Hotel in New York. Der amerikanische Kongress beabsichtigte deshalb ein totales Transportverbot des heiklen Stoffes.
 
Alfred Nobel ergriff die Flucht nach vorn: Er erwirkte vom New Yorker Bürgermeister die Erlaubnis, seine Methode der Handhabung von Sprengöl vor Publikum öffentlich demonstrieren zu dürfen. Im Mai 1866 leitete er eine spektakuläre Probesprengung in einem unbebauten Teil Manhattans. Die Öffentlichkeit verlor ihre Furcht, und der Kongress begnügte sich damit, für die gefährlichen Transporte nurmehr deutliche Warnschilder vorzuschreiben. Am Tag nach dem Kongressbeschluss gründeten Nobel und seine amerikanischen Teilhaber die »United States Blasting Oil Company«. Die erste amerikanische Dynamitfabrik entstand im Herbst 1867 in Rock House Canyon bei San Francisco. Sie musste bereits nach zwei Jahren erweitert werden.
 
Der nächste Standort wurde Frankreich. Auch hier war der Start mühsam. Aber der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 veränderte die Lage zugunsten Nobels, und Anfang 1871 baute der Schwede zusammen mit seinem französischen Kompagnon Paul Barbe im Rekordtempo eine Dynamitfabrik im südfranzösischen Paulilles. 1872 folgte eine Produktionsstätte im schottischen Ardeer, und »das Dynamit begann sich,« so Nobel, »zur Weltindustrie auszuweiten«. 1873 verfügte Alfred Nobel bereits über 17 eigene Fabriken, darunter auch solche in Österreich, Spanien, der Schweiz, Italien und Portugal. Aus Sorge, andere könnten seine Patente illegal verwenden und ihn um den wirtschaftlichen Ertrag seiner Erfindungen bringen, suchte Nobel überall einen schnellen Zugang zum Markt und Betriebsgrößen, die mögliche Konkurrenten von vornherein ausschalteten. Als der Firmengründer und multinationale Unternehmer 1896 starb, besaß er mehr als 90 Sprengstofffabriken in 20 Ländern und damit auf fünf Kontinenten ein globales Industrieimperium ohnegleichen. Nobel engagierte sich nicht nur im Sprengstoffgeschäft, sondern auch in der Erdölindustrie. Seine Brüder Robert und Ludwig Nobel, die in Russland geblieben waren und dort das marode Industrieunternehmen ihres Vaters saniert hatten, erschlossen später die Ölfelder von Baku in Aserbaidschan und ließen den ersten Öltanker sowie die erste Pipeline der Welt bauen. Ludwig Nobel erwarb sich Ruhm und Ansehen als Russlands ungekrönter Ölkönig, und Alfred Nobel wurde Teilhaber und finanzieller Bürge der Ölgesellschaften seiner Brüder, was sein ohnehin bereits immenses Vermögen noch weiter mehrte.
 
 Einsam im Leben und im Tod
 
Reichtum und Erfolg fielen Alfred Nobel nicht in den Schoß. Sein Leben als Forscher und Erfinder, Unternehmer und Industriemagnat war rastlos und voller Stress und seine Gesundheit meist angegriffen. Seit seiner Kindheit schwach und kränklich, hatte er ständig mit Migräne, Rheuma und Magenbeschwerden, später auch mit Angina pectoris zu tun. Er rauchte nicht, trank nicht, aß Diät und suchte häufig Ärzte und Kurorte auf.
 
Als Ironie des Schicksals empfand er es, dass ihm die Mediziner im letzten Lebensjahr ausgerechnet Nitroglycerin als Medikament zur Einnahme gegen seine Herzbeschwerden verordneten. Wegen seiner Geschäfte ständig unterwegs, war Alfred Nobel letztlich heimatlos und »der reichste Vagabund Europas«. Als Person blieb der Schwede weitgehend anonym. Er galt als schweigsam, schüchtern und anspruchslos. Er heiratete nie, hatte auch keine eigenen Kinder, aber eine enge Bindung an seine Mutter und die Brüder, die alle vor ihm starben. Seine Ehelosigkeit war eher unfreiwillig: Die österreichische Baronin und spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die kurze Zeit Nobels Privatsekretärin in Paris war und mit ihm lebenslang befreundet blieb, wäre wohl seine Frau geworden, wenn sie nicht schon anderweitig liiert gewesen wäre. Auch bei der 23 Jahre jüngeren Sofie Hess dachte Nobel zunächst an Heirat. Die kostspielige Verbindung mit dem Blumenmädchen dauerte fast zwei Jahrzehnte und entwickelte sich zum Liebestrauma seines Lebens. Nobel finanzierte der jungen Frau ein immer luxuriöseres Leben und hoffte lange auf den Pygmalion-Effekt der von ihm in Gang gesetzten Bildungsbemühungen und auf den Erfolg der Erziehung zu gesellschaftlichem Schliff. Seine Erwartungen wurden enttäuscht, und das Ende der Affäre waren lange, unerfreuliche Auseinandersetzungen. Nobel verzichtete danach auf alle Romanzen.
 
Obschon permanenter Junggeselle, besaß Nobel im Lauf der Jahrzehnte viele verschiedene Wohnsitze überall in Europa. In allen seinen Wohnungen richtete er üppige Bibliotheken und vor allem private Laboratorien für seine Experimente ein. 1873 kaufte er ein großes Haus in der vornehmen Avenue Malakoff in Paris, nahe beim Arc de Triomphe und dem Bois-de-Boulogne, in dem er fast 20 Jahre bevorzugt lebte, forschte und seine Geschäfte abwickelte. Nach Kontroversen mit den französischen Behörden verließ Nobel im Jahr 1890 Paris und siedelte sich in San Remo in Italien an. Vier Jahre später zog er nach dem Erwerb der schwedischen Waffenschmiede Bofors in den nahen Gutshof Björkborn. Dort verbrachte er den größten Teil seiner letzten Jahre. Im Winter war ihm allerdings das Klima in Schweden zu rau, und er reiste in die Villa »Mio nido« nach San Remo. Dort starb er am 10. Dezember 1896, 63 Jahre alt, an den Folgen einer Gehirnblutung. In seiner Todesstunde war er allein, wie er es im Leben auch gewesen war.
 
Nobel wusste, dass er ein Einzelgänger war, und kannte seine eigenen Schrullen. »Ich bin ein Misanthrop«, schrieb er in einem Brief, »jedoch äußerst wohlwollend, habe eine Menge Schrauben locker und bin ein Superidealist, der Philosophie besser verdaut als Essen.« Als Idealist zeigte er sich in seinen Verfügungen über die Verwendung seines Vermögens im Todesfall. Mit der Formulierung tat er sich allerdings schwer.
 
1893 unterschrieb er sein erstes Testament, das er danach noch mehrfach umformte. Darin vermachte er 20 Prozent seines Vermögens der Verwandtschaft und den ganzen Rest der Allgemeinheit. Er stiftete auch schon eine Reihe von Preisen. So sollten alle drei Jahre die wichtigste Entdeckung in der Medizin und jährlich die »bahnbrechendsten Geistesarbeiten auf dem weiten Feld des Wissens« sowie die energischsten Vorkämpfer für den europäischen Frieden ausgezeichnet werden. Aus den künftig eingehenden Patentabgaben sollten überall in den großen Städten Leichenverbrennungsöfen installiert werden, damit niemand mehr Angst haben musste, scheintot begraben zu werden.
 
In seinem endgültigen Testament zweieinhalb Jahre später präzisierte Nobel seine Wünsche, was mit seiner Leiche zu geschehen habe, damit er nicht selbst scheintot begraben würde und wie die ausgesetzten Preise verteilt werden sollten, und er stiftete noch großzügiger. Sein Dynamitimperium war bei seinem Tod 33 Millionen Schwedenkronen wert. Sehr zu ihrem Ärger bekamen die Erben davon nur 1,5 Millionen. Der Löwenanteil, mehr als 31 Millionen, ging in die Nobelstiftung ein. Die von ihr getragenen jährlichen Preise für Wissenschaft, Literatur und Frieden haben dafür gesorgt, dass der Stifter posthum berühmter geworden ist, als es der Erfinder und Unternehmer zu Lebzeiten je war.
 
Ulla Fölsing

Universal-Lexikon. 2012.

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